Man muss kein Raketenwissenschaftler sein, um den Sieger der diesjährigen Tour de France vorherzusagen. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert – ein Unfall, eine Krankheit oder ein völlig verkorkster Tag, an dem er mehrere Minuten auf seine Rivalen verliert – wird Tadej Pogačar (UAE Team Emirates–XRG) das Gelbe Trikot mit nach Hause nehmen und seinen vierten Toursieg feiern.
Pogačar, Pogačar und nochmal Pogačar
Der Grund ist einfach: Er ist schlichtweg der Beste. Der beste Fahrer seiner Generation – oder vielleicht sogar aller Zeiten. Er dominiert den Radsport wie ein großer Fels in einem viel zu kleinen Netz. Im Sport gewinnt meistens der oder die Beste. Sicher, er hat die Tour zweimal gegen Jonas Vingegaard (Visma–Lease a Bike) verloren, aber es gab jeweils mildernde Umstände.
2022 wurde er am Col du Granon von Vingegaard und dessen Teamkollegen Primož Roglič taktisch überrumpelt – ohne eigene Helfer konnte er den wiederholten Attacken nichts entgegensetzen. Er verlor an diesem Tag 2:51 Minuten auf Vingegaard und lag im Endklassement 2:43 Minuten zurück. Seitdem hat sein Team große Anstrengungen unternommen, ihn mit den besten Helfern des Pelotons zu umgeben – allen voran João Almeida, der inzwischen als bester Edelhelfer der Welt gilt (und selbst bereits drei Etappenrennen in diesem Jahr gewonnen hat) und durchaus ein Kandidat für die Top 5 im Gesamtklassement ist.
2023 verlor Pogačar die Tour, weil er sich bei einem Sturz bei Lüttich–Bastogne–Lüttich das Handgelenk gebrochen hatte und dadurch wichtige Trainingszeit verpasste. So verlor er in der 16. Etappe beim Zeitfahren Zeit auf Vingegaard und brach am Col de la Loze regelrecht ein – 5:45 Minuten Rückstand im Ziel. Doch aktuell ist Pogačar in Topform – vielleicht sogar besser als je zuvor – und dominierte Vingegaard kürzlich beim Critérium du Dauphiné nach Belieben.
Es gibt also keinen Grund, viele weitere Worte zu verlieren. Nur eins beunruhigt mich: Immer wenn ich mir bei etwas so sicher bin, liege ich am Ende falsch.
Die Verfolger: Vingo und Remco
Vingegaard sollte am Ende Zweiter werden – auch wenn ich glaube, dass er sich noch nicht vollständig von seinen Verletzungen nach dem schweren Sturz bei der Itzulia im Vorjahr erholt hat. Ja, das ist über ein Jahr her, aber der Körper braucht lange, um nach solch schweren Verletzungen wieder zur Topform zu finden. Zudem stürzte er bei Paris–Nizza erneut, erlitt eine Gehirnerschütterung und verlor wichtige Renn- und Trainingszeit.
Aber Visma bringt wie gewohnt ein starkes Team an den Start – unter anderem mit Giro-Sieger Simon Yates und dem jungen Amerikaner Matteo Jorgenson. Vingegaard wird wohl langsam ins Rennen finden, in Woche zwei und drei stärker werden – und am Ende 5 bis 8 Minuten Rückstand haben. Yates könnte allerdings ein Joker im Rennen sein, der gemeinsam mit Jorgenson seinen Kapitän nach Pogačars erwarteten Bergattacken wieder heranführt. Doch am Ende entscheidet das Gelbe Trikot sich im direkten Duell – und da ist Pogačar zu stark.
Pogačar und Vingegaard – wer macht’s? © Profimedia
Auch Remco noch nicht bereit?
Was ich zu Stürzen sagte, gilt auch für Remco Evenepoel (Soudal Quick-Step), der nach seinem Trainingsunfall im Dezember noch immer auf dem Weg zurück zur Topform ist. Zwar ist er weiterhin der beste Zeitfahrer der Welt, doch in den großen Bergen wird er derzeit weder Pogačar noch Vingegaard das Wasser reichen können. Zwar gewann er am 27. Juni souverän die belgischen Meisterschaften im Einzelzeitfahren – verlor jedoch das Straßenrennen überraschend an Pogačars Helfer Tim Wellens, mit 38 Sekunden Rückstand.
Auch seine Aussagen bei der Teampräsentation vor dem Tourstart klangen ungewohnt zurückhaltend:
„Ich hatte einen ziemlich schrecklichen Winter. Wir müssen einfach schauen, wie es in den nächsten drei Wochen läuft. Der Trainingsrückstand ist ärgerlich – ich muss Tag für Tag denken und akzeptieren, wie sich das Rennen entwickelt. Unser Ziel ist wie letztes Jahr: eine Etappe gewinnen, am liebsten zwei, und aufs Podium fahren. Ich denke, das ist eine gesunde und realistische Ambition.“
Roglič und die anderen
Ich bin nicht überzeugt, dass Evenepoel die Form hat, um ein starkes Rennen zu fahren. Vielleicht steht am Ende auch Primož Roglič (Red Bull–BORA–hansgrohe) auf dem Podium – der 35-Jährige jagt nach wie vor seinem ersten Tour-Sieg hinterher. Beim diesjährigen Giro war er weit von seiner Bestform entfernt und stürzte in der 16. Etappe aus dem Rennen, als er ohnehin nicht mehr im GC eine Rolle spielte. Seitdem ist er nicht mehr gestartet. Das Team gibt als Ziel das Podium aus, doch ich bin mir sicher: Roglič will mehr.
Aber dafür – oder selbst fürs Podium – muss er auf dem Rad bleiben. 2023 stürzte er bei seiner ersten Tour mit dem neuen Team. Und auch im Giro ging es zu Boden. Ich frage mich, ob das Alter langsam seine Fahrtechnik beeinträchtigt. Andererseits hat er ein starkes Team um sich – mit dem aufstrebenden Florian Lipowitz und dem erfahrenen Aleksandr Vlasov – und er ist ein exzellenter Kletterer und Zeitfahrer. Wenn er nicht stürzt – und das ist ein großes Wenn – traue ich ihm das Podium zu.
Weitere Kandidaten für die Top 5 sind Mattias Skjelmose (Lidl-Trek), Felix Gall (Decathlon AG2R La Mondiale) sowie Almeida, Jorgenson und Lipowitz – drei Edelhelfer, die häufig nahe an ihren Kapitänen über die Berge kommen. Die erste Woche – oder eher die ersten zehn Tage – dieser Tour wird mit Sicherheit die Zahl der realistischen GC-Favoriten verringern und den Charakter der entscheidenden dritten Woche stark beeinflussen.
Es dürfte ein großer Spaß werden.